Klagewelle gegen Hartz IV

(FR-online.de 04.10.07)

VON MARKUS SIEVERS

Hartz IV löst Prozessflut aus (dpa)

Berlin. Immer mehr Menschen in Deutschland klagen auf höhere Hartz-IV-Leistungen. In der ersten Hälfte 2007 stieg die Zahl der Prozesse bundesweit auf 45 500, das sind fast 38 Prozent mehr als zwölf Monate zuvor. Das geht nach Informationen der Frankfurter Rundschau aus einer Übersicht der Bundesagentur für Arbeit (BA) hervor. Dabei unterzeichnet diese Statistik die tatsächliche Inanspruchnahme der Sozialgerichte noch. Denn die BA-Daten erfassen nicht die Städte und Kreise, die sich in Eigenregie als “Optionskommunen” um Langzeitarbeitslose kümmern.

Auch im dritten Jahr nach dem Start wirkt Hartz IV damit wie ein gigantisches Beschäftigungsprogramm für die Justiz. Von einer “Prozessflut” spricht der Präsident des Landessozialgerichtes Nordrhein-Westfalen, Jürgen Brand. In seinem Zuständigkeitsbereich würden etwa viermal so viele Klagen eingereicht wie erwartet. Das Berliner Sozialgericht meldete für Juli den Rekordwert von 1724 neuen Verfahren, das sind über zwei Drittel mehr als ein Jahr zuvor.

Gute Chancen auf Erfolg

Dass Langzeitarbeitslose so häufig Hilfe bei Gericht suchen, hat nicht nur mit dem Gefühl zu tun, durch die Reform Hartz IV ungerecht behandelt zu werden. Offenbar entscheidet die Verwaltung auch auffallend häufig zu Unrecht gegen die Betroffenen. Die Erfolgsaussichten für die Kläger seien “ungewöhnlich hoch”, berichtet Hessens oberster Sozialrichter Harald Klein. Zeitweise habe jedes zweite Verfahren mit einem Erfolg für die Kläger geendet. Inzwischen sei die Quote zwar etwas gesunken, liege aber noch deutlich höher als in anderen Rechtsgebieten.

Folglich zeigt der Ansturm auf die Gerichte auch, wie schlampig die Reform ausgearbeitet wurde. “Wir bekommen zu spüren, dass der Gesetzgeber die Lebenswirklichkeit nicht genügend berücksichtigt hat”, sagt Sozialrichter Klein. Probleme in der Praxis bereite vor allem das Bemühen, mit der Hartz-Reform die Ansprüche im Pauschalverfahren ohne Berücksichtigung des Einzelfalls zu ermitteln. So haben es die Richter mit Eltern zu tun, die ihren Kindern einen Schulausflug nicht bezahlen können. Oder sie müssen chronisch Kranken helfen, bei denen der Standardsatz von 347 Euro im Monat nicht reicht, um die Diät zu finanzieren. Für Ärger sorgt auch die Unterscheidung zwischen Zweckwohngemeinschaften und Liebespaaren, die sich gegenseitig unterstützen müssen, bevor eine(r) Arbeitslosengeld II beanspruchen kann. In Folge der Klagewelle haben die Sozialgerichte republikweit ihr Personal aufgestockt. “Arme müssen trotz der vielen Verfahren nicht länger auf ihr Recht warten”, meint Brand. Im Gegenteil sei die Bearbeitungsdauer sogar gesunken – auf durchschnittlich gut sieben Monate.

Derweil streitet die SPD immer heftiger über Korrekturen an den Hartz-Reformen. Während Parteichef Kurt Beck (SPD) ältere Arbeitslose länger vor Hartz IV bewahren möchte, verteidigt Vize-Kanzler Franz Müntefering die Einschnitte der Agenda 2010.

Download Artikel als PDF