Hartz-IV-Schüler fühlen sich zu Ausbildung gedrängt

Jobcenter in der Kritik

Wie weit dürfen Jobcenter gehen? Nach SPIEGEL-ONLINE-Informationen kontrollieren sie die Zeugnisse von Schülern mit Hartz-IV-Eltern – und drohen mit Sanktionen, teils ohne Rechtsgrundlage. 16-Jährige fühlen sich bedrängt, eine Ausbildung zu beginnen. Dabei wollen sie weiter zur Schule gehen.

Der letzte Schultag von Jenny*, 16, hätte so schön sein können: Die Realschülerin aus dem Ruhrgebiet hat die zehnte Klasse erfolgreich beendet, die mittlere Reife in der Tasche und einen sonnigen Sommer in Aussicht. Das dünne Mädchen mit den kurzen blonden Haaren könnte den Realschulabschluss genauso ausgelassen feiern wie ihre Klassenkameraden – wäre da nicht der Ärger mit der Arbeitsagentur.

Jenny wächst in einem Hartz-IV-Haushalt auf. Die Behörde fordert immer wieder Kopien ihrer Zeugnisse an – obwohl die 16-Jährige regelmäßig Schulbescheinigungen eingereicht hat. Jenny hat den Eindruck, sie soll in eine Ausbildung oder einen Job gedrängt werden. Dabei ist ihre Zukunft längst geregelt.

Mit ihrer Verunsicherung ist Jenny nicht allein. SPIEGEL ONLINE liegen Informationen über ähnliche Fälle aus Hessen und Niedersachsen vor. Der Verdacht: Sollen Hartz-IV-Jugendliche um jeden Preis eine Lehre beginnen? Die Arbeitsagentur weist diesen Vorwurf entschieden zurück.

Bei Jenny begann der Druck durch das Jobcenter Anfang des Jahres. Im Briefkasten der Familie, die Arbeitslosengeld II bezieht, lag wieder einmal ein Brief von der Arbeitsagentur – adressiert nicht, wie sonst, an die Mutter, sondern an Jenny selbst. “Zwecks Überprüfung der derzeitigen Verhältnisse” solle sie ihr Halbjahreszeugnis einreichen, stand dort. Jenny fürchtete, dass die Behörde anhand der Noten ihren Werdegang planen wollte. Sie verweigerte die Zeugnisvorlage.

“Der Berater wollte mich zu einer Ausbildung drängen”

Es folgte ein Briefwechsel, unter Androhung von Sanktionen wurde Jenny schließlich zu einem Gespräch ins Jobcenter geladen. Der Berater schob ihr eine Eingliederungsvereinbarung über den Tisch. Mit dem Vertrag sollte Jenny zusichern, sich um eine Lehrstelle zu bemühen. Doch Jenny suchte keinen Ausbildungsplatz, sie wollte nach der mittleren Reife auf die Berufsschule. “Der Berater wollte mich zu einer Ausbildung drängen. Wahrscheinlich, damit der Staat nicht mehr für mich zahlen muss”, sagt sie heute.

Jenny trotzte dem Druck und bewarb sich erfolgreich an der Berufsschule. Im August beginnt der Lehrgang zur technischen Mediengestalterin. Das begleitende einjährige Praktikum hat sie auch schon organisiert. Sie ist ihrem Traumjob einen großen Schritt näher gekommen. Ruhe hat sie trotzdem nicht.

Kürzlich forderte der Berater im Rahmen einer “Datenaktualisierung” erneut Jennys Schulzeugnis ein, um ihr “bei einer Arbeits- oder Ausbildungsstellensuche helfen zu können”. Liege das Zeugnis binnen drei Wochen nicht vor, könne dies zu einer Kürzung oder Einstellung der Leistungen führen, hieß es. Jenny fühlt sich ausgegrenzt und alleingelassen. “Ich tue viel für meine Zukunft, warum erkennt das Amt das nicht an?”

Es sei der gesetzliche Auftrag der Arbeitsagenturen, Berufsberatung und Berufsorientierung anzubieten, sagt Anja Huth, Sprecherin der Bundesagentur für Arbeit. “Wir sind in der Grundsicherung auf der Suche nach Talenten und fördern diese auch entsprechend.” Das gelte sowohl für Erwachsene als auch für Kinder, so Huth. Man rate auch “keinem Schüler davon ab, ein Gymnasium zu besuchen. Im Gegenteil”. Schulzeugnisse fordere man nur an, wenn es einen berechtigten Grund gebe – etwa, wenn Schüler die Finanzierung von Nachhilfestunden beantragt hätten. Eine generelle Vorlage der Schulzeugnisse sei “aus datenschutzrechtlichen Gründen nicht umsetzbar”.

Notenschnitt 1,6: Franziska will das Abi machen

Doch Jenny hat keine Förderung von Nachhilfe beantragt. Warum das zuständige Jobcenter im Ruhrgebiet trotzdem ihre Zeugnisse verlangt, wollte die Behörde auf Anfrage von SPIEGEL ONLINE nicht erklären.

Ziel sei es stets, die Hilfebedürftigkeit einer Bedarfsgemeinschaft zu beenden, zu der auch Kinder zählten, erläutert die Bundesagentur für Arbeit. Daher sei es sinnvoll, “wenn man sich frühzeitig auch über die Kinder und deren Chancen (zum Beispiel einen Ausbildungsplatz zu finden) zusammen mit den Eltern Gedanken macht”. Generell aber sollte es “uns in den Jobcentern gelingen, immer transparent zu machen und gut zu begründen, warum wir das tun, was wir tun”.

Jenny jedenfalls konnte die wiederholte Forderung, ihre Zeugnisse vorzulegen, nicht nachvollziehen. Franziska*, 16, aus der Nähe von Frankfurt erging es ähnlich. Um das Zeugnis der 16-jährigen Gesamtschülerin würden sich wohl viele ihrer Klassenkameraden reißen – Notendurchschnitt 1,6. Doch für Franziska bedeutet das Dokument vor allem eines: neuen Stress mit dem Jobcenter.

Auch sie bekommt regelmäßig Post vom Amt. Der Berufsberater sorge sich um Franziskas Zukunft, es sei der Zeitpunkt, über eine Ausbildung nachzudenken, schrieb er ihr im vergangenen Herbst. Die Jugendliche solle Kopien ihres letzten Zeugnisses einreichen, damit man die Zukunft planen könne.

Franziska war geschockt. “Für mich steht fest, dass ich mein Abitur machen will und studieren werde – und auf einmal soll ich über eine Ausbildung nachdenken?” Als sie sich weigerte, die Zeugnisse einzureichen, folgten weitere Briefe. Franziska müsse “alle Möglichkeiten zur Beendigung oder Verringerung ihrer Hilfebedürftigkeit ausschöpfen”, schrieb ihr der Berater im März. Auch ihr wurden Sanktionen angedroht. Nach den Sommerferien wechselt sie trotzdem aufs Gymnasium.

“Prinzip des Förderns und Forderns”

In Franziskas Fall ist der Hochtaunuskreis zuständig. “Wir fordern die Schulzeugnisse ein, um den Status der erwerbsfähigen Jugendlichen zu überprüfen”, so Pamela Ruppert, Sprecherin des Hochtaunuskreises, auf Anfrage von SPIEGEL ONLINE. “Um sie schnellstmöglich in Arbeit zu vermitteln, müssen wir ja wissen, ob die Jugendlichen noch zur Schule gehen – oder schon dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen.” So sehe es das Sozialgesetzbuch vor. Warum für die Statusüberprüfung die Schulbescheinigungen, wie sie auch Franziska regelmäßig einreichen musste, nicht ausreichten, beantwortete Ruppert nicht.

Neben dem Ärger mit der Arbeitsagentur haben Jenny und Franziska noch etwas gemeinsam: ihre engagierten Mütter, die sich im Internet informieren und für ihre Töchter kämpfen. Die Mütter fanden heraus, dass ihre Töchter die Zeugnisse gar nicht vorlegen müssen – und unterstützen den Widerstand ihrer Kinder.

Auch von zwei Geschwistern aus der Nähe von Cuxhaven hatte das Jobcenter mehrfach Schulzeugnisse angefordert, obwohl die Jugendlichen noch bis 2011 die Schule besuchen werden. Ihre Mutter wandte sich an Werner Schulten, Vorstandsmitglied der Linkspartei, der beim Jobcenter nachfragte. Die Einsicht in Zwischen- und Abschlusszeugnisse sei “notwendiger Bestandteil des Beratungsauftrages im Wege der Berufsorientierung”, antwortete ihm Kay Kanthack, stellvertretender Geschäftsführer des Jobcenters.

Auf Anfrage von SPIEGEL ONLINE rechtfertigt Kanthack die regelmäßige Überprüfung der Noten mit dem Prinzip des “Förderns und Forderns”. Die Überprüfung sei nötig, um den Übergang des “Kundenkreises” von Schule in Beruf zu gewährleisten. Das Feedback der Schüler sei positiv, so Kanthack.

Werner Schulten hat andere Erfahrungen gemacht: “Die Mutter und ihre Kinder waren schockiert, dass ihre Schulnoten durch das Jobcenter beurteilt werden sollten. Außerdem hatten sie Angst vor Sanktionen.”

“Als potentiell psychisch krank eingestuft”

Der Kieler Sozialrechtler Helge Hildebrandt gibt den Familien Recht: “Es existiert keine gesetzliche Verpflichtung der Eltern, der Arbeitsagentur die Schulzeugnisse ihrer Kinder vorzulegen”, sagt der Anwalt. Denn die gesetzliche Mitwirkungspflicht, mit der die Jobcenter die Zeugnisvorlage oft begründen, dürfe nicht an Sanktionen geknüpft werden, solange die Jugendlichen noch zur Schule gingen (siehe Kasten).

Aus diesem Grunde gebe die Arbeitsagentur an die Jobcenter Empfehlungen aus, wie auf die Eltern auf andere Weise Druck ausgeübt werden könne, sagt der Anwalt. So heißt es in einer Stellungnahme der Arbeitsagentur: “Sollte der Jugendliche (…) nicht zu einer freiwilligen Selbstauskunft bereit sein”, sei die “Einschaltung des Psychologischen Dienstes” in Betracht zu ziehen. Für Hildebrandt ein Skandal: “Wer nicht freiwillig Auskünfte erteilt, zu denen er gesetzlich gar nicht verpflichtet ist, wird als potentiell psychisch krank eingestuft”, kritisiert er.

Es sind Praktiken wie diese, die Jenny daran zweifeln lassen, dass sie es wirklich schaffen kann. Dass sie sich ein besseres Leben erarbeiten kann, wenn sie sich nur anstrengt. Die Realschul-Absolventin fühlt sich abgestempelt und allein gelassen. Während ihre Mitschüler die Freiheit nach der Realschule in vollen Zügen genießen, hat sie die nächsten Termine beim Jobcenter im Hinterkopf. (Von Massimo Bognanni, spiegel online, 27. Juli 2010)

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