Die größte Sozialreform der Bundesrepublik muss drastisch korrigiert werden: Das Bundesverfassungsgericht hat die Hartz-IV-Leistungssätze für völlig falsch berechnet erklärt. Mehrere Familien hatten geklagt – sie bekamen in weiten Teilen Recht, die Regierung muss bis Jahresende neue Regelungen umsetzen.
Berlin – Die Bundesregierung muss Hartz IV korrigieren. Das Verfassungsgericht hat in einem wegweisenden Urteil große Veränderungen an der größten Sozialreform der Bundesrepublik gefordert.
Drei Familien hatten geklagt, weil sie die Hilfssätze für Kinder zu gering fanden – sie bekamen weitgehend Recht. Und die Richter gingen noch einen Schritt weiter. Erstmals äußerten sie sich auch grundsätzlich zum sogenannten Grundrecht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum und urteilten:
- Die Berechnung der Hartz-IV-Regelsätze ist verfassungswidrig.
- Sie bleibt aber bis zum Jahresende in Kraft.
- Ab 1. Januar 2011 muss eine Neuregelung gelten.
- Bis dahin können die knapp sieben Millionen Hilfebedürftigen ergänzende Leistungen beanspruchen, allerdings nur in seltenen Fällen, soweit dies zur Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums erforderlich ist.
Der Hartz-IV-Regelsatz für Erwachsene liegt derzeit bei 359 Euro monatlich. Bei Inkrafttreten der Sozialreform Anfang 2005 waren es noch 345 Euro – errechnet nach einer Grundversorgungstabelle (siehe unten). In Deutschland beziehen mehr als 6,5 Millionen Menschen Hartz-IV-Leistungen. 1,7 Millionen Kinder und Jugendliche leben von Hartz IV – die Leistungen sind gestaffelt, und zwar ausgehend vom Regelsatz. Unter sechs Jahren gibt es 60 Prozent (215 Euro), unter 14 Jahren 70 Prozent (251 Euro), von 14 bis 18 Jahren 80 Prozent (287 Euro).
Die Karlsruher Richter halten die derzeitigen Berechnungen für nicht transparent genug. Das Gericht forderte den Gesetzgeber auf, bis zum 31. Dezember eine an der Realität orientierte Neuregelung zu schaffen. Ob Bezieher des Arbeitslosengeldes II deshalb mehr Geld bekommen müssen, ließ das Gericht offen.
Nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts durfte der Gesetzgeber zur Sicherung eines “menschenwürdigen Existenzminimums” durchaus feste Regelsätze schaffen. Die derzeitigen Sätze seien auch “nicht evident unzureichend”, stellten die Richter fest. Dennoch müsse deren Berechnung nun in einem transparenten und sachgerechten Verfahren nach dem tatsächlichen Bedarf neu erfolgen. Besonders bei Kindern müsse sich die neue Berechnung stärker an der Realität orientieren. Damit waren die Klagen von drei Familien aus Bayern, Hessen und Nordrhein- Westfalen erfolgreich.
Bis zu einer Änderung bleibt die bisherige Regelung gültig. Ab sofort können Hartz-IV-Empfänger jedoch einen besonderen Bedarf geltend machen, der durch die bisherigen Zahlungen nicht gedeckt wird. Damit drohen dem ohnehin schwer verschuldeten Staat in diesem Jahr höhere Ausgaben für Hartz IV.
“Mächtig Hausaufgaben” für die Regierung
Die drei Klägerfamilien kommen aus Nordrhein-Westfalen, Bayern und Hessen. Sie und auch die gerichtlichen Vorinstanzen hatten bemängelt, dass kein eigener Bedarf für die Kinder errechnet wird, sondern er nur aus denen der Erwachsenen abgeleitet wird – obwohl Kinder häufiger neue Kleidung brauchen als Erwachsene und für sie Bildungsausgaben anfallen. Schon im Januar 2009 hatte das Bundessozialgericht deshalb die Berechnung der Hartz-IV-Sätze für Kinder bis 14 Jahre für verfassungswidrig erklärt.
Dass die Verfassungsrichter eine Hartz-IV-Revision verlangen würden, damit hatte die Bundesregierung gerechnet. Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) hatte in der “Abendzeitung” gesagt, sie erwarte einen Auftrag des Gerichts an den Gesetzgeber, “bei Hartz IV noch mal deutlich nachzubessern”.
Auch Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen (CDU) machte klar, dass sie sich auf Korrekturen einstellt. Im ZDF sagte sie mit Blick auf das Urteil: “Das wird uns Leitplanken und mächtig Hausaufgaben geben”. Gerade bei Kindern müsse genau definiert werden, was sie brauchen, sagte von der Leyen. Es gehe nicht nur um Geld, sondern auch um Bildung und Teilhabe. Sie könne sich auch Sachleistungen wie Nachhilfe- und Sportunterricht und warmes Schulessen vorstellen.
Errechnung der Hartz-IV-Regelsätze (Stand 2003) | |||
Kategorie | Ausgaben* | Anteil in Prozent, den die Regierung Hartz-IV-Empfängern anerkennt | Hartz-IV-Bezug in Euro |
Nahrungsmittel, Getränke, Tabakwaren | 133 | 96% | 127 |
Bekleidung und Schuhe | 34 | 100% | 34 |
Wohnen einschl. Energie, -instandhaltung | 322 | 8% | 24 |
Einrichtungs-, Haushaltsgegenstände | 27 | 91% | 25 |
Gesundheitspflege | 18 | 71% | 13 |
Verkehr | 59 | 26% | 16 |
Nachrichtenübermittlung | 40 | 75% | 30 |
Freizeit, Unterhaltung, Kultur | 71 | 55% | 39 |
Bildungswesen | 7 | 0% | 0 |
Beherbergungs- /Gaststättendienstleistung | 28 | 29% | 8 |
Andere Waren und Dienstleistungen | 40 | 67% | 27 |
Insgesamt | 779 | ||
Insgesamt ohne Wohnkosten | 483 | 345 | |
*Errechnung des Hartz-IV-Satzes auf Basis der Verbrauchsausgaben der untersten 20 Prozent der nach Nettoeinkommen geschichteten alleinstehenden Haushalte. Empfänger, die überwiegend von Leistungen der Sozialhilfe gelebt haben, sind nicht berücksichtigt. Quelle: EVS 2003 |
(plö/phw/dpa/AFP, Spiegel.de, 9.2.2010)