(FR 06.06.2006)
Jurist äußert Zweifel an Zulässigkeit der Regeln für eheähnliche Gemeinschaft und Stiefeltern / Kritik an Umkehr der Beweislast
Die Verschärfungen im Hartz-IV-Gesetz für eheähnliche Gemeinschaften und Stiefeltern hat Bundessozialrichter Ulrich Wenner kritisiert. Die am 1. Juni vom Bundestag beschlossenen Änderungen seien „verfassungsrechtlich problematisch“.
Köln – Ob eine eheähnliche Gemeinschaft vorliegt, mussten im Zweifel bisher die Ämter nachweisen. Erst danach durften sie etwa bei einer Empfängerin von Arbeitslosengeld (ALG) II das Einkommen und Vermögen des mit ihr zusammenlebenden Partners anrechnen. Nach einem neu im Gesetz eingefügten Absatz sollen künftig die Ämter stets „vermuten“, dass eine Eheähnlichkeit vorliegt, „wenn Partner 1. länger als ein Jahr zusammenleben, 2. mit einem gemeinsamen Kind zusammenleben, 3. Kinder oder Angehörige im Haushalt versorgen oder 4. befugt sind, über Einkommen oder Vermögen des anderen zu verfügen“.
Die Betroffenen können diese Vermutung nach dem Gesetz, dem der Bundesrat noch zustimmen muss, widerlegen. Gelingt ihnen dies, gelten sie als alleinstehend – und nicht als Paar. Dafür müssen sie allerdings nachweisen, dass „alle“ vier genannten Kriterien „nicht erfüllt werden bzw. die Vermutung durch andere Umstände entkräftet wird“. Diese Beweislastumkehr ist nach Auffassung von Bundessozialrichter Wenner „vollständig verfehlt“. Beweisen könne man rechtlich immer nur Tatsachen und nicht den „Charakter“ einer Beziehung.
Selbst wenn zum Beispiel ein Mann und eine Frau länger als ein Jahr zusammenlebten, sei das noch kein ausreichendes Merkmal dafür, dass sie tatsächlich die für eine Ehe typische „Verantwortungs- und Einstandsgemeinschaft“ bilden, schreibt Wenner in der Zeitschrift Soziale Sicherheit. „Weil zwei Personen im Rechtssinne nicht beweisen können, dass sie einander nicht in einer eheähnlichen Partnerschaft verbunden sind, kann ihnen auch keine entsprechende Beweislast auferlegt werden“, meint Wenner.
Für verfassungsrechtlich nicht zulässig hält der Richter auch die jetzt beschlossene Versorgungspflicht von Stiefeltern beziehungsweise Stiefpartnern gegenüber den mit ihnen zusammenlebenden Kindern eines neuen Ehe- oder Lebenspartners, der ALG II bezieht. „Das bricht mit einer seit Jahrzehnten praktizierten Rechtslage“, schreibt Wenner. Im bisherigen Sozialhilfe-, Steuer- und Familienrecht würden Einkommen und Vermögen von Stiefelternteilen nicht zur Bedarfsdeckung von Stiefkindern herangezogen.
„Bruch mit praktiziertem Recht“
Nach einer Trennung von Eltern und der Bildung neuer Beziehungen gelte der rechtliche Grundsatz: „Als Paar trennen wir uns, Eltern bleiben wir gemeinsam.“ Wenn jetzt aber die Entscheidung für das Zusammenleben mit einem neuen Partner zur Folge habe, auch für dessen Kinder aus früheren Beziehungen – so wie für eigene Kinder – einstehen zu müssen, „wird die Bereitschaft, eine solche Partnerschaft einzugehen massiv beeinträchtigt“, schreibt der Bundessozialrichter. Das wäre mit der vom Grundgesetz gewährleisteten Freiheit zur Schließung einer Ehe oder Partnerschaft nicht vereinbar, meint Wenner. Hans Nakielski