„Der Missbrauch ist ein Mythos“

(FR online 28.07.2006)

Viele reden mit (ddp)

1. Der Kostenanstieg bei Hartz IV ergibt sich aus der steigenden Anzahl der Bedarfsgemeinschaften

Die Gesamtausgaben für die Grundsicherung für Arbeitslose sind seit ihrer Einführung von 38,6 Milliarden Euro (2004) über 44,4 Milliarden Euro (2005) auf 47,8 Milliarden Euro (Prognose 2006) gestiegen. Der Kostenanstieg seit 2004 ist vor allem durch die steigende Zahl der Bedarfsgemeinschaften im Leistungsbezug zu erklären.

Dafür sind drei Faktoren verantwortlich. Erstens hat die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe zur Reduzierung der verdeckten Armut beigetragen (Dunkelziffereffekt). Insbesondere Personengruppen, die früher nur Arbeitslosenhilfe erhielten und ihr Recht auf ergänzende Sozialhilfeleistungen nicht wahrgenommen haben, realisieren nun als Bedarfsgemeinschaften im Rahmen der neuen Grundsicherung für Arbeitslose häufiger ihre Anrechte.

Zweitens stieg die Anzahl der Langzeitarbeitslosen weiter an – von 1,3 Millionen im Jahr 2003 und 1,4 Millionen 2004 auf 1,5 Millionen im Jahr 2005 (Arbeitsmarkteffekt).

Drittens werden Arbeitslose zunehmend über Arbeitslosengeld II (ALG II) und weniger über Arbeitslosengeld I (ALG I) abgesichert. Die Anzahl der EmpfängerInnen von ALG I sank von 1,9 Millionen im Jahr 2003 über 1,8 Millionen im Jahr 2004 auf 1,7 Millionen im Jahr 2005. Vermutlich zeigen hier die Verkürzung der Rahmenfrist für die Berechnung des Arbeitslosengeldes auf zwei Jahre und die Verkürzung der Bezugsdauer des ALG I auf einheitlich 12 Monate ihre Wirkungen. Dieser Verschiebeeffekt wird durch die neue Kunden-Segmentierung der Bundesagentur für Arbeit (BA) gestützt: Arbeitslose mit nur geringen Vermittlungschancen gehen mit höherer Wahrscheinlichkeit in den Rechtskreis Sozialgesetzbuchs (SGB) II über.

2. Die Einsparungen im Rechtskreis Sozialgesetzbuch (SGB) III übertreffen den Kostenanstieg bei Hartz IV

In der regulären Arbeitsförderung nach SGB III ist eher eine Kostenimplosion zu beobachten. Gleichzeitig mit dem Anstieg der Gesamtausgaben für Langzeitarbeitslose sanken die Ausgaben der BA beim Arbeitslosen- und Insolvenzgeld um 2,3 Milliarden Euro und bei Maßnahmen der aktiven Arbeitsmarktpolitik um weitere 5,5 Milliarden Euro. Der BA war es 2005 sogar möglich, einen um 3,8 Milliarden Euro geringeren Bundeszuschuss zu beanspruchen und 4,6 Milliarden Euro für den neu geschaffenen Aussteuerungsbetrag an den Bund abzuführen. Trotzdem fielen 2005 im Vergleich zum Vorjahr die Gesamtausgaben der BA um 1,4 Milliarden Euro. Auch im SGB II reduzierten Bund, Länder und Kommunen die Ausgaben für Eingliederungsleistungen von 5,8 Milliarden Euro auf 3,6 Milliarden Euro. Von einer Kostenexplosion durch die Einführung der Grundsicherung für Arbeitslose kann daher keine Rede sein.

3. Der Regelsatz sichert sozio-kulturelles Existenzminimum nicht

Die Leistungen im Rahmen des ALG II sind keineswegs generös. Die Leistungssätze haben sich im Vergleich zur früheren Sozialhilfe nur geringfügig verändert. Der Eckregelsatz (heute 345 Euro im Monat) stieg zwar an, gleichzeitig werden die Kosten für einmalige Leistungen (z. B. für Kleidung oder Haushaltsgegenstände) nicht mehr übernommen.

Bezugsgröße für den Regelsatz ist nicht der mittlere Lebensstandard der Bevölkerung, sondern sind die Konsumausgaben des unteren Fünftels der Bevölkerung, die auf der Basis der Einkommens- und Verbrauchsstatistik des Statistischen Bundesamtes (EVS) erhoben werden. Dabei werden, auf Basis politischer und nicht sachlicher Erwägungen weitere Abzüge vorgenommen (beispielsweise für Uhren, Schmuck, Musikunterricht). Zudem bleiben Preissteigerungen unberücksichtigt. Nach den Berechnungen des Paritätischen Wohlfahrtsverbands müssten die Regelsätze daher dringend um 19 Prozent auf 412 Euro angehoben – und nicht etwa gesenkt – werden, um den täglichen Bedarf abzudecken und ein Minimum an gesellschaftlicher Teilhabe sicherzustellen.

4. Hartz IV macht mehr Menschen arm

Die Mehrzahl der BezieherInnen von Arbeitslosenhilfe (insgesamt ca. 60 Prozent) hat durch die Reform weniger Geld zur Verfügung, wie eine aktuelle Simulationsanalyse von Irene Becker und Richard Hauser zeigt. Eine Verschlechterung erleben vor allem die ehemaligen ArbeitslosenhilfeempfängerInnen mit in Vollzeit beschäftigtem Partner (89 Prozent Schlechterstellung), von denen viele (meist Frauen) auf Grund der verschärften Einkommensanrechnung des Partners den Anspruch auf Unterstützung ganz verlieren. Aber auch vormalige ArbeitslosenhilfebezieherInnen mit arbeitslosem Partner sind davon überdurchschnittlich betroffen (73,2 Prozent Schlechterstellung).

In den Arbeitslosenhilfe-Haushalten ist die Armutsquote um mehr als zehn Prozentpunkte – von etwa 50 Prozent vor der Reform auf ca. 63 Prozent im Jahr 2005 angestiegen. Da die Bewilligung der Unterstützungsleistung auf Basis einer strengen Bedarfsprüfung erfolgt, müssen ALG-II-EmpfängerInnen für ihren Lebensunterhalt zudem auf privates Spar-Vermögen zugreifen. Da die Rentenanwartschaften, die ALG-II-EmpfängerInnen in der Gesetzlichen Rentenversicherung erwerben können, äußerst gering sind, ist Altersarmut vorprogrammiert. Dennoch wird ihr Beitrag zur Rentenversicherung derzeit halbiert, um Einsparungen in Höhe von zwei Milliarden Euro zu realisieren. Für ehemalige Sozialhilfebeziehende stellt die Einbeziehung in die Renten- und Krankenversicherung eine Verbesserung dar. Im Leistungsbezug sind keine Verbesserungen zu erwarten, wenngleich Evaluierungsstudien noch ausstehen. Auf Grund der bisherigen Datenlage deutet daher vieles darauf hin: Durch Hartz IV geraten mehr Menschen zusätzlich unter die Armutsgrenze.

5. Arbeit lohnt sich trotz Hartz IV

Sozialleistungen liegen zu nahe an den Löhnen und bieten keinen ausreichenden Anreiz zur Arbeitsaufnahme – so ein häufig formuliertes, aber nicht haltbares Argument. Denn: Für einen verheirateten Langzeitarbeitslosen, seine nichterwerbstätige Ehefrau und seine zwei Kinder ist inklusive Miet- und Heizkosten in Westdeutschland ein maximaler Bedarfssatz von 1597 Euro vorgesehen.

Nimmt derselbe Familienvater eine Erwerbstätigkeit an, bei der er 1009 Euro verdient, erhält er zusätzlich zu seinem Gehalt noch 154 Euro Kindergeld pro Kind sowie den Kinderzuschlag von 140 Euro, und erzielt damit ein Haushaltseinkommen über der Bedarfsgrenze. Für eine vierköpfige Familie reicht ein Nettoarbeitseinkommen von ca. 1000 Euro aus, um ein Haushaltseinkommen in Höhe des maximalen Bedarfssatzes zu erzielen. Allerdings beziehen nur wenige Bedarfsgemeinschaften die Höchstsätze der Grundsicherung. Im Durchschnitt zahlt die Arbeitsagentur einer vierköpfigen Familie 919 Euro aus, also fast 700 Euro weniger als der maximale Bedarfssatz ermöglicht. Grund dafür ist, dass jedes zusätzliche Einkommen den Bedarfssatz reduziert und für viele Arbeit wichtiger als der Verdienst ist: Gerade die Erfahrung mit den Ein-Euro-Jobs verdeutlicht, dass die meisten Arbeitslosen sehr wohl bereit zur Aufnahme einer noch so gering entlohnten Beschäftigung sind. Arbeitsgelegenheiten stehen jedoch nicht in ausreichender Zahl zur Verfügung.

6. Niedriglohn wird bereits jetzt subventioniert

Im Jahr 2005 wurde in 844 000 Bedarfsgemeinschaften Einkommen aus Erwerbstätigkeit auf das ALG II angerechnet. Zu 95 Prozent wird das im Rahmen der Grundsicherung anzurechnende Einkommen in abhängiger, davon zur Hälfte in sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung verdient. Der im Vergleich zum ehemaligen Arbeits- und Sozialhilfesystem gestiegene Anteil der so genannten AufstockerInnen von 12 Prozent im Jahr 2004 auf 18 Prozent im Jahr 2005 verdeutlicht: Bei der Grundsicherung für Arbeitssuchende handelt es sich keineswegs nur um ein Leistungssystem, das sich ausschließlich auf die Absicherung erwerbsloser Personen und ihrer Familien beschränkt. Vielmehr erweist es sich als ein System, das faktisch die gewünschte und sozialrechtlich konstruierte Flexibilität auf dem Arbeitsmarkt und die damit einhergehenden Versorgungslücken „sozialverträglich“ abfedert. Insofern wird nicht nur der Anteil von Personen, die trotz Arbeit unter der Armutsschwelle leben, anwachsen, sondern gleichzeitig wird der Lohndruck im unteren Einkommensbereich umso stärker ausfallen, je geringer das gesetzliche Existenzminimum ist. Ein sinkendes Niveau im Niedriglohnsegment drückt wiederum auf das sozio-kulturelle Existenzminimum.

Nur ein gesetzlicher Mindestlohn könnte diese Negativspirale und die dauerhafte Subvention regulärer Arbeitsverhältnisse verhindern.

7. Missbrauchs- und Mitnahmefälle sind statistisch betrachtet nicht relevant

Der aktuell konstatierte Anstieg der Ausgaben für die Grundsicherung kann nicht mit massivem Missbrauch erklärt werden. Über den tatsächlichen Missbrauch von Leistungen nach dem SGB II gibt es keine repräsentativen Statistiken. Als einzig zuverlässige Erhebungsmethode hat der automatisierte Datenabgleich vom Oktober 2005 einen vorläufigen Fehlbetrag bei ALG-II-Zahlungen von 27 Millionen Euro ergeben, das würde hochgerechnet einem Anteil von 0,2 Prozent der Summe, die 2005 für das ALG II ausbezahlt wurde (rund 25 Milliarden Euro), entsprechen. Die Berichte einzelner Kommunen über den Leistungsmissbrauch stützen die Annahme, dass Missbrauchsfälle eher selten vorkommen. Massiver Missbrauch von Leistungen aus der Grundsicherung ist also ein Mythos und kein Faktum.

Hinter der Debatte um Leistungsmissbrauch steht oftmals ein falsches Verständnis des Missbrauchbegriffs. Denn Missbrauch im eigentlichen Sinne bedeutet die rechtswidrige Inanspruchnahme von Leistungen, z. B. auf der Grundlage von unvollständigen oder Falschangaben zur Hilfebedürftigkeit. Rechtmäßiger Anspruch auf Leistungen der Grundsicherung besteht immer dann, wenn die formalen Voraussetzungen erfüllt sind. Dementsprechend ist das Geltendmachen rechtmäßiger Ansprüche legitim. Die Anzahl der Personen, die ihren Anspruch auf Sozialhilfe nicht geltend gemacht hatte, jetzt aber durch die Bedarfsgemeinschaft mit ALG-II-EmpfängerInnen sichtbar wird, werden von Becker und Hauser auf 1,8 Millionen geschätzt: Diese Inanspruchnahme im Rahmen von Missbrauchsdebatten zu instrumentalisieren ist unzulässig und stellt das Sicherungssystem grundsätzlich in Frage.

Fazit

Die ansteigende Langzeitarbeitslosigkeit wird zunehmend von einer ökonomischen zu einer moralischen Herausforderung stilisiert. Die Stimmen werden lauter, die die Gewährung von Hilfe überhaupt in Frage stellen und die rigorose Durchsetzung von weiteren Leistungskürzungen fordern.

Der aktuelle Reformdiskurs, der sich – unter Ausblendung der massiven Reduzierung der für aktive Arbeitsmarktpolitik eingesetzten Mittel – ausschließlich an der konstruierten Notwendigkeit des Sparens orientiert, widerspricht der Absicht, Sozialpolitik zur Aktivierung von individuellen Handlungspotenzialen und als Investition in das Sozialkapital zu nutzen. Erreicht wird durch die aktuelle Politik der Daumenschrauben und des Spardiktats lediglich, dass – bei ausbleibender Arbeitsnachfrage – die Menge der zwangsläufig in Passivität verharrenden, stigmatisierten und unter Generalverdacht gestellten Personen wächst und Vertrauen und Zufriedenheit als Fundament eines demokratischen Sozialstaats schwinden.

Will man Langzeitarbeitslosigkeit wirksam bekämpfen und das Anwachsen von Armut verhindern, ist es notwendig, anstelle einer weiteren Reduzierung der Leistungen das Existenzminimum neu zu definieren und Eingliederungsmittel tatsächlich zu verwenden. Nur dann kann das eigentliche Ziel der Reform eingelöst werden: Die Stärkung der individuellen Autonomie der Arbeitslosen durch Bereitstellung existenzsichernder sozialer Leistungen und die aktive Förderung der Wiedereingliederung.

[ document info ]

Copyright © FR online 2006

Erscheinungsdatum 28.07.2006

Die Autoren

Am Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut (WSI) der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung haben sich mit dem Thema beschäftigt: Judith Aust und Till Müller-Schoell (wissenschaftliche Mitarbeiter), Silke Bothfeld und Simone Leiber (wissenschaftliche Referatsleiterinnen für den Bereich Arbeitsmarktpolitik und den Bereich Sozialpolitik) und die Praktikantin Britta Seine.

Bothfeld und Müller-Schoell arbeiten außerdem in dem Projekt: MonAPoli – Monitor Arbeitsmarktpolitik mit, das die Arbeitsmarktreformen kritisch begleitet. Ziel des Projektes ist die Bereitstellung von Orientierungswissen zum Verständnis der Hartz-Reformen und die zeitnahe Aufbereitung und Kommentierung von Daten und Berichten.

MonAPoli wird gemeinsam von der Hans-Böckler-Stiftung und der Otto-Brenner- Stiftung der IG Metall finanziert. Weitere Informationen zu den Arbeitsmarktreformen unter: www.monapoli.de ber

Download Artikel als PDF